Pertti Ahonen. After the Expulsion: West Germany and Eastern Europe 1945-1990. Oxford: Oxford University Press, 2003. 313 S. $90.00 (gebunden), ISBN 978-0-19-925989-2.
Reviewed by Samuel Salzborn (Institut fuer Politikwissenschaft, Universitaet Giessen, Germany)
Published on H-German (September, 2004)
Noch vor wenigen Jahren schien es so, als wuerden die Vertriebenenverbaende im politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland keine wirklich bedeutsame Rolle mehr spielen. Erst der vergangenheitspolitische Streit ueber das von den Vertriebenenverbaenden geforderte und ausserhalb Deutschlands fast einhellig abgelehnte Zentrum gegen Vertreibungen reanimierte wieder ein groesseres sozial- und geschichtswissenschaftliches Interesse an diesem Gegenstand.
Auch wenn der Titel eine etwas anders angelegte Untersuchung vermuten laesst, stellt die von Pertti Ahonen vorgelegte Arbeit After the Expulsion: West Germany and Eastern Europe 1945-1990 eine in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Studie zur Geschichte der deutschen Vertriebenenverbaende als einem der einflussreichsten aussenpolitischen Interessenverbaende der fruehen Bundesrepublik dar. Ahonen hat dabei eine ueberaus materialreiche und faktengesaettigte Studie vorgelegt, die hinsichtlich ihrer quantitativen Breite ihresgleichen sucht. Auch wenn man dem Autor in seinen Interpretationen des Verhaeltnisses von bundesdeutscher Regierungs- und Parteipolitik auf der einen und den Vertriebenenverbaenden auf der anderen Seite nicht immer zustimmen kann, ist ihm alles in allem ein Werk gelungen, das ueber weite Strecken historische Hintergruende und politische Zusammenhaenge der Thematik auf substanzielle Weise erhellt.
Ahonen untergliedert seine Darstellung der Beziehungen und Wechselverhaeltnisse von deutscher Regierungspolitik und Vertriebenenverbaenden in drei grosse Etappen, wobei er das Vertriebenenproblem zurecht als "crucial link between the internal and external levels of West German politics" beschreibt (p. 8). Die erste Etappe (1949-55) war gepraegt von der Aufnahme der Fluechtlinge in Westdeutschland, ihrer Integration ins bundesdeutsche Wirtschafts- und Sozialgefuege und der Entstehung von organisatorischen Strukturen als Interessenvertretungen der Fluechtlinge und Vertriebenen. Die Vertriebenenorganisationen entstanden dabei in einer Parallelstruktur aus einerseits auf soziale Integration und finanzielle Alimentation bedachten Verbaenden mit primaer innenpolitischer Intention und andererseits heimat-und volkstumspolitischen Organisationen mit staerker aussenpolitischer Ausrichtung, wobei Ahonen zutreffend darauf hinweist, dass "social demands constituted only a secondary interest, a 'short-term goal,' for the expellee activists, whose primary 'long-term objective' remained? a return to the old homelands'" (p. 39). Mit dem erfolgreichen Fortschritt der sozialen und oekonomischen Integration der Fluechtlinge im Laufe der 1950er Jahre wurden die aussenpolitischen Forderungen nach Realisierung eines "Rechtes auf die Heimat" dann auch immer staerker oeffentlich akzentuiert, die die Vertriebenenverbaende durch eine eigenwillige Lesart und voelkische Uminterpretation des Selbstbestimmungsrechts theoretisch anzureichern versuchten.
Das Verhaeltnis von Vertriebenenverbaenden, offizieller deutscher Aussenpolitik und den groesseren Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP) war in dieser Zeit gepraegt von einer weitgehenden Uebereinstimmung in ostpolitischen Fragen, wobei eine hohe innenpolitische Akzeptanz der Vertriebenenverbaende bestand, da "the expellee problem became a major issue in the political life of western Germany long before the Federal Republic had even been founded" (p. 54). Die Bundesregierung stimmte aufgrund der Einbindung Westdeutschlands in den Ost-West-Konflikt, der Blockkonfrontation sowie der eingeschraenkten staatlichen Souveraenitaet ihre Zustimmung zu den insgesamt sehr weitreichenden Forderungen der Vertriebenenverbaende auf internationalem Parkett dabei stets diplomatisch auf ihr zentrales Ziel der Vereinigung von BRD und DDR ab. Diese Strategie in Bezug auf die aussenpolitischen Forderungen der Vertriebenenverbaende schlug sich auch im Verhalten der politischen Parteien nieder: "While endorsing, in principle, these expellees' right to their homelands, party leaders rejected explicit territorial claims to the areas in question and insisted, with an often confusing logic, that the Heimatrecht had nothing to do with revisionist ambitions" (p. 79).
Die zweite Etappe der bundesdeutschen Vertriebenenpolitik umfasst nach Ahonens Klassifizierung die Zeit von 1955 bis 1966, in der insbesondere der praktische Einfluss der Vertriebenenverbaende auf die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland zum Tragen kam. Entscheidend gepraegt wurde diese Zeit durch die Gruendung des Dachverbandes Bund der Vertriebenen (BdV), der die Parallelstrukturen der Vertriebenenorganisationen integrierte und Selbstangaben zufolge seither rund zwei Millionen Mitglieder vertritt. Die organisatorische Vereinheitlichung machte den BdV zu einer einflussreichen pressure group mit "two million additional votes" (p. 156), die dieses Potenzial auch immer wieder als argumentatives Druckmittel gegenueber den Parteien ins Feld fuehrte. In diesem Zusammenhang macht Ahonen auf ein bisher unbekanntes, wissenschaftlich interessantes und politisch ueberaus pikantes Detail aufmerksam: naemlich dass die Vertriebenenverbaende bereits seit Anfang der 1960er Jahre unter erheblichem Mitgliederschwund litten und statt der offiziell (noch bis heute!) angegebenen zwei Millionen Mitglieder bereits 1962 lediglich 1,25 Millionen Mitglieder vertreten haben.
Waehrend die Vertriebenenverbaende unter den CDU-gefuehrten Bundesregierungen bis Mitte der 1960er Jahre stets eine bedeutende Rolle gespielt hatten, aenderte sich dies bereits in der Phase der Grossen Koalition, in der sich gesellschaftlich entspannungspolitische Ansaetze andeuteten, die ihren politischen Hoehepunkt in der Neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition seit 1969 fanden. Ahonen beschreibt diese Phase von 1966 bis 1990 als "Collapse of the Pattern" (p. 201). So ueberzeugend, detailgenau und belegreich die Darstellung der Zeit bis 1969 bei Ahonen ist, so ungenau wird leider seine Analyse der Rolle der Vertriebenenverbaende waehrend der sozialliberalen Koalition und der 1982 beginnenden Aera der Regierung Kohl. Bereits der Umfang des Unterkapitels From the New Ostpolitik to Reunification, 1969-1990 mit lediglich 23 Seiten fuer einen Zeitraum von ueber 20 Jahren deutet diese Schwachstelle an (waehrend--zum Vergleich--den 21 Jahren von 1949 bis 1969 rund 230 Seiten gewidmet sind).
Inhaltlich betrachtet ignoriert Ahonen dann auch die grundlegende aussenpolitische Neuorientierung der Vertriebenenverbaende seit Anfang der 1970er Jahre fast voellig, die erhebliche Bedeutung fuer das Agieren der Vertriebenenverbaende in den 1970er und 1980er Jahren zunaechst in theoretischer, seit den 1990er Jahren dann auch in praktischer Dimension hatte: die Ausrichtung auf das Konzept eines europaeischen Volksgruppenrechts, dessen Ziel die ethnische Segmentierung der osteuropaeischen Nationalstaaten ist, vermittels derer das geforderte "Recht auf die Heimat" ohne territoriale Annexion umgesetzt werden soll.[1] Dieses Volksgruppenkonzept ist deshalb von erheblicher Bedeutung, weil innerhalb des BdV in den 1960er und 1970er Jahren eine eigenstaendige Arbeitsgruppe Volksgruppenrecht unter Beteiligung von hochrangigen Wissenschaftlern vor allem aus Deutschland und Oesterreich eingesetzt wurde, deren programmatische Arbeit wiederum zu massiven Modifikationen in der aussenpolitische Rhetorik zahlreicher Landsmannschaften gefuehrt und das Konzept ueberdies nachhaltigen Einfluss auf das aussenpolitische Agieren der Regierung Kohl ausgeuebt hat.[2]
Eine genauere Analyse dieser Modifikationen der aussenpolitischen Konzepte der Vertriebenenverbaende haette dann auch zeigen muessen, dass Ahonens These des Bedeutungsverlustes der Vertriebenenverbaende zwar sicher auf die Zeit der sozialliberalen Koalition zutrifft, aber ungeachtet aller Veraenderungen im Verhaeltnis von Vertriebenenverbaenden und bundesdeutscher Regierung fuer die konservative Regierung seit 1982 schlichtweg falsch ist. Somit haette es der Arbeit insgesamt auch deutlich besser getan, die Analyse mit dem Jahr 1969 abzuschliessen, statt krampfhaft die These einer kontinuierlichen Abnahme der Bedeutung der Vertriebenenverbaende bis in die 1990er Jahre zu verfolgen.
Notes
[1]. Ahonen beschraenkt sich in seiner Darstellung auf eine lediglich nominelle Erwaehnung des Volksgruppenrechtskonzepts als "most important new item in the expellee rhetoric of the early 1970s" (p. 246).
[2]. Der groesste Teil der Unterlagen ueber die Taetigkeit der Arbeitsgruppe Volksgruppenrecht des BdV ist im Bundesarchiv Koblenz (Bestand B 234) einsehbar. Die zentralen Ergebnisse der Taetigkeit dieser Arbeitsgruppe sind aber auch in einem dreibaendigen Werk publiziert worden. Vgl. Theodor Veiter, ed., System eines internationalen Volksgruppenrechts, 1. Teil: Grundlagen und Begriffe (Wien and Stuttgart: W. Bramueller, 1970); 2. Teil: Innerstaatliche, regionale und universelle Struktur eines Volksgruppenrechts (Wien and Stuttgart: W. Bramueller, 1972); 3. Teil: Sonderprobleme des Schutzes von Volksgruppen und Sprachminderheiten (Wien: W. Bramueller, 1978).
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Citation:
Samuel Salzborn. Review of Ahonen, Pertti, After the Expulsion: West Germany and Eastern Europe 1945-1990.
H-German, H-Net Reviews.
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