Petra von der Osten. Jugend- und Gefährdetenfürsorge im Sozialstaat: Auf dem Weg zum Sozialdienst katholischer Frauen 1945-1968. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 2002. 387 S. ISBN 978-3-506-79998-2.
Reviewed by Wolfgang Ayaß (University of Kassel, Germany)
Published on H-German (September, 2004)
"Der Sozialdienst katholischer Frauen ist ein Frauen- und Fachverband der Sozialen Arbeit in der Kirche. Der Verein ist Fachverband der Kinder- und Jugendhilfe, der Gefährdetenhilfe und der Hilfe für Frauen und Familien in Not. Er setzt sich für Frauen ein, die benachteiligt sind und sich ausgegrenzt fühlen. Er bietet Kindern und Jugendlichen, Frauen und Familien, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden, Beratung, Unterstützung und Hilfe an. Der Sozialdienst katholischer Frauen ist Fachverband im Deutschen Caritasverband." So stellt sich heute der 1899 unter dem Namen "Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder" gegründete Verein auf seiner Website vor (http://www.skf-zentrale.de). Petra von der Osten untersucht in ihrer von der Universität Leipzig angenommenen geschichtswissenschaftlichen Dissertation die Nachkriegsgeschichte dieses nun schon über einhundert Jahre alten Vereins bis zum Jahr 1968.[1]
Ursprünglich war das Aufgabengebiet des Vereins begrenzter. Der Katholische Fürsorgeverein sah seine Hauptaufgabe in der Betreuung junger Prostituierter bzw. der "Gefährdeten," also jener Mädchen und Frauen, die der Verein aufgrund "häufig wechselndem Geschlechtsverkehr" ("HwG-Mädchen") als anfällig für Prostitution ansah bzw. denen man eine Prostitutionstätigkeit unterstellte ohne diese jedoch nachweisen zu können. Dabei engagierte sich der Verein nachhaltig in der Jugendfürsorge für Mädchen in Bereichen wie Fürsorgeerziehung und Jugendgerichtshilfe. Der Verein betrieb etwa einhundert Heime in denen Ende der 60er Jahre Etwa 2500 Frauen beschäftigt waren, unter ihnen rund 500 Ordensschwestern. In der offenen Fürsorge arbeiteten weitere 500 Kräfte, unterstützt von mehreren Tausend ehrenamtlich arbeitenden Frauen.
Das erste der vier Kapitel der Studie befasst sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Versuchen des Vereins unter den Bedingungen britischer Besatzung (der Vereinssitz lag und liegt in Dortmund) in der NS-Zeit verlorenes Terrain wiederzugewinnen. Mit dem Feld der Jugendhilfe war der Verein ja ausgerechnet hauptsächlich in einem Zweig der Fürsorge tätig, den sich Hitlerjugend und NS-Volkswohlfahrt mit Vorliebe angeeignet hatten. Petra von der Osten zeigt, wie traumatisch sich die kirchenfeindliche NS-Zeit auf Dauer auf das in der Folge immer gespannt bleibende Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Fürsorge auswirkte.
Im zweiten Kapitel schildert die Autorin dann die langwierigen Auseinandersetzungen um die Wiederetablierung bzw. Weiterentwicklung des Jugendfürsorgerechts. Der "katholischen Seite" war es gelungen, im Bundesinnenministerium bzw. später im Bundesfamilienministerium mit dem Referenten für Jugendrecht Friedrich Rothe einen Verbindungsmann zu platzieren, zu dem die Verbandsleiterin Elisabeth Zillken enge persönliche Kontakte pflegte und der den Verein regelmäßig mit internen Papieren des Ministeriums versorgte. Wir erfahren in diesem Kapitel (wie in der gesamten Studie) viel über das Agieren der Verbandsleitung in Ausschüssen, über die Lobbyarbeit in Parlamenten und Einflussnahme auf die Regierungsbürokratie etc., aber fast nichts über die konkrete sozialarbeiterische Tätigkeit des Verbands (und leider überhaupt nichts über die Klientinnen). Dagegen wird der Gesetzgebungsprozess zum Jugendwohlfahrtsrecht recht ausführlich geschildert, insbesondere die Entstehung des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1961. Grundlegendes Thema dabei ist das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe.
Zentrales Anliegen des Vereins auf gesetzgeberischem Gebiet war die Schaffung eines sog. "Bewahrungsgesetzes," das als auf Erwachsene ausgedehnte Fürsorgeerziehung begriffen werden kann. Die Vereinsgründerin Agnes Neuhaus hatte die Idee eines Bewahrungsgesetzes vor und insbesondere während des Ersten Weltkriegs entwickelt und ihr Anliegen während der Weimarer Republik als Reichstagsabgeordnete des Zentrums nachhaltig vertreten. Petra von der Osten zeigt nun erstmals, wie der Verein schon bald nach Kriegsende sein altes Anliegen wieder aufgriff und nach einigen gescheiterten Anläufen dann tatsächlich inhaltlich in das im Jahr 1961 geschaffene Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einbauen konnte. Ab 1962 galt in der Bundesrepublik ein im Bundessozialhilfegesetz verstecktes Bewahrungsgesetz.[2] §73BSHG sah im Rahmen der "Hilfe für Gefährdete" Zwangsunterbringung in einer "geeigneten Anstalt, in einem geeigneten Heim oder in einer geeigneten gleichartigen Einrichtung" vor. Sie sollte verhängt werden, "wenn 1. der Gefährdete besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos ist, 2. der Gefährdete verwahrlost oder der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt ist und 3. die Hilfe nur in einer Anstalt, in einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung wirksam gewährt werden kann." Der Katholische Fürsorgeverein hatte somit sein jahrzehntelanges Ziel endlich erreicht. Doch bereits nach fünf Jahren musste die schon im Gesetzgebungsverfahren umstrittene Zwangsunterbringung von "Gefährdeten" aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder aus dem BSHG gestrichen werden. Das höchste deutsche Gericht erklärte 1967 die gemäß §73 BSHG durchgeführte Zwangsunterbringung von "Gefährdeten" für verfassungswidrig, weil das Grundrecht der persönlichen Freiheit durch diese Regelung unverhältnismäßig eingeschränkt sei. Der Staat habe nicht die Aufgabe, seine Bürger zu bessern und habe deswegen auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu bessern, solange sie sich nicht selbst oder andere gefährdeten.
Wie reagiert ein Fürsorgeverein, dessen jahrzehntelanges Hauptanliegen der "Bewahrung" Erwachsener für verfassungswidrig erklärt wird? Als Verfassungsfeinde galten in jenen Jahren doch ganz andere! Und dies in einer Zeit, in der auch die Fürsorgeerziehung Jugendlicher scharfer öffentlicher Kritik ausgesetzt war und letztlich ebenfalls abgeschafft wurde. Geschlossene Fürsorgeerziehungsheime für Mädchen--womöglich sogar von katholischen Ordensschwestern geleitet--galten damals doch geradezu als Symbol für repressive Erziehung und Sexualunterdrückung. Man denke nur an das "Kloster" in Ulrike Meinhofs Fürsorgeerziehungsdrama Bambule mit dem wohl ein Heim des Katholischen Fürsorgevereins gemeint war.[3] Petra von der Osten arbeitet eingehend heraus, dass sich der Verband in den Jahren um 1968 ohnehin in einer Umbruchsphase befand, die schon einige Jahre zuvor begonnen hatte. Zumindest die Umbenennung in "Sozialdienst katholischer Frauen" war recht lange und kontrovers diskutiert worden. Auch erreichte die Fachdebatte zur Reform der Heimerziehung den Verein lange vor der "Heimkampagne" der Studentenbewegung. Doch die zaghaften Reformen des Vereins geschahen deutlich aus der Defensive heraus als Reaktion auf verstärkte Staatsaufsicht und erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit. Die Schilderung der langsamen Öffnung des Vereins gehört zu den stärksten Abschnitten des Buchs. Einfühlsam beschreibt die Autorin das durchaus widerstrebende Eingehen auf moderne Methoden der Sozialarbeit, deren Postulate vom selbstbestimmten Klienten der Praxis der "Klöster" diametral entgegenstanden. Man konnte schon 1958 im Korrespondenzblatt des Vereins--unter der Rubrik "Heißes Eisen"--so unerhörte Fragen lesen wie: "Zwingen wir unsere Schützlinge nicht zu sehr in unsere eigene Lebensform?" (S. 292). Sehr langsam rückten die Mitarbeiterinnen des Vereins davon ab, "ihre Hilfe in sozialer Not an sittliche und religiöse Vorgaben für die Betreuten zu binden" (S. 293).
Die Heime des Vereins litten zunehmend an einem Mangel an Ordensschwestern und aber auch an festangestellten Laienkräften, die--man stelle sich das vor!--im Gegensatz zu den Ordensschwestern tatsächlich "Freizeit" verlangten (S. 249). Professionalisierung bedeutete vor allem auch Einstellung ausgebildeter Laienkräfte und damit Verteuerung der Hilfe. Hinzu kamen zunehmende Spannungen zwischen den oft älteren Ordensschwestern und jungen, frisch ausgebildeten "weltlichen" Fachkräften. Insgesamt verdreifachte sich die Zahl der "weltlichen" Kräfte vom Zweiten Weltkrieg bis 1968, während die Zahl der Ordensfrauen sich nur unwesentlich veränderte, wobei letzte allerdings häufig Leitungsfunktionen besetzten (S. 254-256). Gleichzeitig wurde es immer schwieriger, ehrenamtlich Arbeitende zu gewinnen. Schließlich erfolgte auch ein deutlicher Rückgang der betreuten Klientinnen (S. 280), die sich zunehmend weltanschaulich offeneren Hilfeangeboten zuwandten. Dies lässt auf eine größer werdende Distanz zwischen Helferinnen und Betreuten schließen. (S. 308).
Eine Doktorandin hat das gute Recht, sich ihr Thema einzugrenzen. Trotzdem: Mir scheint, dass die Autorin zeitlich gerade dort aufhört, wo es spannend wird. Zwar schildert sie eingehend die langen Debatten über die dann im Jahr 1968 erfolgte Namensänderung des Vereins und zeigt, dass sich hinter der Namensänderung auch eine Änderung des Konzeptes verbirgt. Wie sich das dann konkret in der Praxis auswirkte, bleibt jedoch völlig im Dunklen. Doch dieses Manko durchzieht die ganze Studie. Eigentlich erfahren wir im gesamten Buch nicht, was der Verein in den einzelnen Städten und Anstalten tatsächlich machte. Die Autorin ist sich dieses Mangels durchaus bewusst, sie beklagt wiederholt, dass sich in den Akten der Verbandsleitung wenig über die Arbeit vor Ort niedergeschlagen hat. Aber dann hätte die Untersuchung sich nicht auf die Akten der Verbandsleitung beschränken dürfen, sondern auch bei Ortsvereinen und Anstalten ansetzen müssen. Dort wird man noch Unterlagen finden können, zumindest könnten doch einige Mitarbeiter und Klienten der Zeit um 1968 noch leben und Auskunft geben.[4]
Wir erfahren bei Petra von der Osten viel über theologische Hintergründe, den Einfluss des sich langsam auflösenden katholischen Milieus und zeitgenössische Debatten im Katholizismus und insbesondere über dessen Frauenbild. Auch thematisiert die Autorin das immer virulente Spannungsverhältnis zum Caritasverband, zumal auch das Verhältnis des Caritasverbandes zur kirchlichen Hierarchie keineswegs geklärt und spannungsfrei war (S. 286). Die Studie wird dagegen nicht einmal ansatzweise in den langen gesellschaftlichen Debatten über Prostitution und Sexualität verortet--immerhin doch das Hauptthema des Vereins. Fürsorgegeschichte wird so nicht von den sozialen Problemen her gesehen, sondern vom "Verband" bzw. dessen Führungspersönlichkeiten. So steht die Arbeit letztlich in der Tradition jener Literatur über Armenfürsorge bzw. Sozialarbeit, in der die Adressaten der Hilfe kein Thema sind.
Bei aller kritischer Distanz der Autorin bleibt zudem ihre ausgeprägte Binnensicht problematisch. Sie wertete außer dem im Freiburger Caritasarchiv überlieferten großen Aktenbestand der Vereinsführung kaum unveröffentlichte Quellen aus, auch nicht bei Themen, die dies angezeigt hätten, wie z.B. bei den ausführlich geschilderten Gesetzgebungsprozessen. Die Geschichte des Sozialdienstes Katholischer Frauen wird so gewissermaßen aus sich selbst heraus erklärt. Die Gefahr einer die Bedeutung des Vereins übersteigernden Hausgeschichtsschreibung lauert da an jeder Ecke.
Nichtsdestotrotz: Eine für die Professionalisierungsgeschichte der Sozialarbeit, zum Thema Subsidiarität und dem Verhältnis von öffentlicher und privater Wohlfahrtspflege interessante Studie.
Anmerkungen
[1]. Für die Zeit bis 1945 vgl. Andreas Wollasch, Der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (1899-1945), (Freiburg i.Br. 1991); ders., 100 Jahre Sozialdienst katholischer Frauen. Von der Fürsorge "für die Verstoßenen des weiblichen Geschlechts" zur anwaltschaftlichen Hilfe (Dortmund, 1999).
[2]. Vgl. hierzu nun Matthias Willing, Das Bewahrungsgesetz (1918-1967). Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge (Tübingen, 2003).
[3]. Ulrike Marie Meinhof, Bambule. Fürsorge--Sorge für wen? (Berlin, 1971).
[4]. Dass dies möglich ist, zeigt der Sammelband von Franz-Werner Kersting, Hrsg., Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre (Paderborn, München, Wien, und Zürich, 2003).
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Citation:
Wolfgang Ayaß. Review of von der Osten, Petra, Jugend- und Gefährdetenfürsorge im Sozialstaat: Auf dem Weg zum Sozialdienst katholischer Frauen 1945-1968.
H-German, H-Net Reviews.
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