Überlebende und ihre Kinder im Gespräch. Hamburg: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 05.05.2010-07.05.2010.
Reviewed by Carola Rudnick
Published on H-Soz-u-Kult (September, 2010)
Überlebende und ihre Kinder im Gespräch
Vom 05.-07. Mai 2010 lud die KZ Gedenkstätte Neuengamme als erste Gedenkstätte überhaupt zehn Überlebende (First Generation) des Konzentrationslagers Neuengamme und seiner Außenlager aus zehn Europäischen und Außereuropäischen Ländern ein, gemeinsam mit den eigenen Kindern und Enkelkindern (Second und Third Generation) über die Erlebnisse zwischen 1939-1945 und die persönliche, individuelle Aufarbeitung nach 1945 ins Gespräch zu kommen. Neben diesem autobiographischen, familiengeschichtlichen und intergenerationellen Dialog, versuchten sich die Gäste der First, Second und Third Generation auch kritisch mit den sehr unterschiedlichen nationalen Geschichtsnarrativen der vergangenen 65 Jahre auseinanderzusetzen. Ausgehend von der eigenen Verfolgungsgeschichte und dem individuellen Umgang nach 1945 kamen der Wandel der Erinnerungskulturen, die Verflechtung und Brüche der eigenen Narrative mit der jeweiligen nationalen, offiziellen Gedenk- und Erinnerungskultur zur Sprache. Auf diese Weise wurden ambivalente, von äußeren Widersprüchen und Konflikten begleitete Erfahrungsberichte der Überlebenden über ihre Haft- und Verfolgungszeit (selbst-)reflektiert und interessant ergänzt um Erfahrungsberichte über den Umgang mit der Vergangenheit im privaten wie im öffentlichen Raum in den jeweiligen Ländern.
Den Auftakt machte Hédi Fried aus Schweden, Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Neuengamme und Bergen-Belsen, die gemeinsam mit ihren beiden Enkelkindern über den Gegensatz von familiärer Gegenwart von KZ-Vergangenheit und National-Mythen über die neutrale Rolle Schwedens im Nationalsozialismus diskutierte. Aufgrund der Dominanz der humanitären Rolle des neutralen Schwedens, die erst in den 80er und 90er Jahren u.a. in Forschungsarbeiten von Steven Koblik und Paul Levine hinterfragt wurde, habe Fried es sehr schwer gehabt, öffentliches Gehör zu finden. Im Privaten herrschte hingegen ein liberaler, offener Umgang. Welche Auswirkung die Geschichte der Großmutter auf das Leben der Enkel hatte, beantworteten die beiden Vertreter der Third Generation klar: Samuel studiert wie seine Großmutter Psychologie, Yael studiert Jewish Studies und arbeitet am Jüdischen Museum in Stockholm. Hédi Fried unterstützt Schwedens Initiativen „Forum för Levande historia“ (Forum für Lebendige Geschichte, 1988) und die „Task Force on International Cooperation“ (2000). Des Weiteren leitet sie das von ihr gegründete „Cafe 84“, eine Einrichtung, die Überlebende miteinander in Kontakt bringt und therapeutische Hilfe anbietet. Daneben setzt sie sich dafür ein, dass Schwedens Lehrer in Holocaust-Education geschult werden, da das schwedische Schulsystem inzwischen die Nationalmythen hinterfragt.
Lebhaft schilderten im Anschluss Kitty Hard-Moxon und ihr Sohn Peter Charles Moxon ihre verschiedenen Aufarbeitungsinitiativen in Großbritannien. Im Unterschied zu Schweden waren die Geschichtsdiskurse in Großbritannien bestimmt von der Rolle als Alliierter und Befreier. Nur auf den Kanalinseln, so Moderator MARCO KÜHNERT (Neuengamme), habe es auf britischem und von deutschbesetztem Gebiet Deportierte gegeben, die ein eigenes, singuläres Holocaustnarrativ pflegten und sich damit absetzten. Obwohl Kitty selbst das Glück hatte, gemeinsam mit ihrer Mutter nach 1945 zu Verwandten nach Großbritannien zu kommen, bedeute dies nicht gleich die Chance, mit ihnen das Erlebte zu teilen. Die britischen Verwandten wollten von Kitty nichts hören über ihre NS-Verfolgung. Im Fall von Kitty brauchte es 15 Jahre, bis einzelne anfingen sich für ihre Geschichte zu interessierten. Durch das Nachordnen der Holocausterinnerung in Großbritannien existiere dort das Phänomen, dass sogar die Second Generation wenig weiß. Diese Lücke zu schließen versucht der „Holocaust Education Trust“. Er schule die Second Generation in Holocaust-Education und bereite sie auf ihre Verantwortung vor, die Erinnerung an das Erlebte wach zu halten. Daneben organisiert der Trust „teaching the teachers“-Seminare und jährliche Auschwitzfahrten für jeweils zwei Schüler jeder Schule in Großbritannien.
Ganz andere Erfahrungen über den Umgang mit der eigenen Verfolgungsgeschichte berichteten Überlebende und ihre Angehörigen aus osteuropäischen Ländern, in denen aufgrund der politischen Vorzeichen zwischen 1945 und 1989/1991 die Aufarbeitung der NS-Zeit geprägt war von den kommunistischen und sozialistischen Geschichtspolitiken. So erzählte Emil Lakatos, wie er nach der Liquidation der belgischen Partisanenorganisation und seiner Rückkehr nach Ungarn 1948 seinen jüdischen Namen aufgab und sich mit dem neuen politischen System und der Heldenerinnerung der Mehrheitsgesellschaft arrangierte. Als ehemaliger Partisane schloss er sich dem ungarischen Verband ehemaliger Soldaten und Widerstandskämpfer an, der sich nicht mit jüdischer Verfolgung und Vernichtung befasste. Zwangsarbeit und KZ-Hafterfahrungen waren bis 1989 nur unter seinesgleichen und in der Familie Thema. Mit dem politischen Ende des Sozialismus in Ungarn änderte sich dies. Seither spreche er öffentlich und ohne Einschränkungen über seine Geschichte. Die neuerliche politische Wende Ungarns sieht er kritisch, er mache sich den Vorwurf, noch nicht genug erzählt zu haben.
Obwohl auch Milos Poljansek eine Vergangenheit als Partisane und Widerständler hat, berichteten er und seine Tochter Tadeja Poljansek im Unterschied zu Emil Lakatos nicht von einer erfolgreichen Integration der eigenen Geschichte in das vorherrschende Erinnerungsnarrativ. Sie schilderten, wie heimkehrende Slowenen nach 1945 verdächtigt wurden, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Es habe Schauprozesse gegeben, die in Jugoslawien zu einem großen Beschweigen unter den ehemaligen KZ-Häftlingen geführt hätten. Tadeja erinnert sich, dass KZ-Haft ihr bis zu ihrem ersten Besuch der Gedenkstätte Neuengamme im Jahr 1995 und bis zum Erscheinen des Buches ihres Vaters 2002 nur wenig bedeutet habe. Ein Bewusstsein dafür habe sie erst mit Erinnerungsbericht ihres Vaters und durch das Kennenlernen des ehemaligen Haftortes entwickelt. Inmitten der aktuellen Schlussstrich- und Verharmlosungspolitik durch die rechtskonservative Regierung, so Tadeja, wachse gleichzeitig eine Third Generation heran, die sehr viel neugieriger und freier mit dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust umgeht als jede Generation zuvor. Auf die Frage, ob er, Milos je „Überlebensschuld“ gefühlt habe, hatte er nur eine Antwort: „Ich bin ein glücklicher Mensch“.
Der Einfluss der aufeinanderfolgenden Diktaturen auf den jeweiligen individuellen, familiären und öffentlichen Aufarbeitungsprozess verdeutlichten auch die Berichte von Ljudmilla Subowskaja aus der Ukraine, von Tadeusz Krystyniak aus Polen und von Grigori Kulbaka aus Russland, der zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ksenija Maximova Olchova auf dem Podium saß. In der Ukraine gab es nach 1945 nur die Erinnerungspolitik, die aus Moskau vorgeschrieben wurde. So dominierte auch dort das Geschichtsnarrativ eines bewaffneten Heldenkampfes der Ukraine gegen die Deutschen. Ausdruck fand dieses Narrativ u. a. in Kiews „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Babij Jar wurde nach 1945 genauso beschwiegen, wie die Verschleppung von Ukrainern nach Deutschland in die Zwangsarbeit sowie die Mittäterschaft von Ukrainern in den Einsatzgruppen und in den Konzentrationslagern. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine änderte sich dies nur langsam. Die Ukrainische Aufstandsarmee unter der Führung von Stepan Bandera entpuppte sich zwar als ein mit der Wehrmacht kollaborierender, antisemitischer Kampfverband, dennoch wurde Bandera durch den scheidenden Staatspräsident Juschtschenko noch am 22. Januar 2010 zum „Helden der Ukraine“ erklärt. Und obwohl in der Ukraine noch heute etwa 470.000 ehemalige Zwangsarbeiter leben, sei die Erinnerung an ihr Leid marginaler Natur. Ludjmilla schilderte, dass bis heute die Täter nicht zur Verantwortung gezogen seien und kein Bewusstsein für Mittäterschaft bestehe. Erst seit dem Ende der 90er Jahre rede sie öffentlich über ihre Haftzeit und engagiere sich. Inzwischen ist auch ihre Enkeltochter Natalija Mitglied des „Haus der Hoffnung“, einer 170 Mitglieder zählenden Hilfsorganisation, die sich aus dem Kreise der ukrainischen Ravenbrückerinnen gründete.
Tadeusz Stanislaw Krystyniak aus Polen, ziviler Kämpfer im Warschauer Aufstand, hat gemeinsam mit seinen Kindern einen anderen Weg der Aufarbeitung gefunden. So war es seine jüngste Tochter Maria Krystyniak, die durch ihre Suche des Grabes ihres Großvaters und eine Reise nach Neuengamme und Salzgitter den Stein des Anstoßes gab. Nachdem Tadeusz 2002 die Grabstelle seines Vaters Stanisław (gestorben 1944) in Salzgitter-Watenstedt aufsuchte, begann er das Komponieren von Musikstücken über seine Haftzeit, die seine jüngste Tochter Maria heute in ihre Arbeit als Musikpädagogin einfließen lässt. Da es ihn zu sehr belastet, kann er sich bis heute nicht überwinden, in das auch ihm gewidmete Museum des Warschauer Aufstandes zu gehen. Über seine Erlebnisse in der Öffentlichkeit zu sprechen fiel ihm schwer.
Grigori Kulbaka und seine Lebensgefährtin Ksenija Olchova hingegen können mit dem Reden über die Vergangenheit nicht mehr aufhören: „Es gab viele Jahrzehnte des Schweigens, jetzt kommen wir mit dem Reden gar nicht mehr hinterher.“ Seit dem Ende der Sowjetunion 1991, darin waren sich beide einig, habe niemand mehr Angst über die eigene Vergangenheit öffentlich zu sprechen. Nur ein Wermutstropfen sei geblieben, so hadere die Regierung immer noch damit, die ehemaligen KZ-Häftlinge und Kriegsgefangenen als Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges anzuerkennen. Sie stünden deshalb weitgehend ohne Entschädigungen und ohne Veteranenbezüge da. Die vorwiegend von der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ unterstützte Hilfsorganisation „Sostradanie“ versuche den daraus resultierenden Mangel durch medizinische, soziale und psychologische Pflegeleistungen zu kompensieren, berichtete ihre Leiterin Jelisaweta Viktoranowa Dschirikowa. Trotz der unermüdlichen Arbeit bekäme weder „Sostradanie“ noch die Organisation MEMORIAL seitens der russischen Regierung gebührende Anerkennung und Unterstützung. Insbesondere ehemalige Kriegsgefangene seien noch immer die unbeliebten Antihelden und bis heute diskriminiert.
Erinnern ist für Überlebende ein schmerzhafter Prozess. So ging es auch Marian T. Hawling. Bei ihm waren es nicht politische Gesamtumstände, die seine persönliche Aufarbeitung viele Jahrzehnte unmöglich machten. Vielmehr hatte er mit seiner Emigration nach Australien beschlossen, nicht sprechen zu wollen über seine Erlebnisse in der Armia Krajowa, im polnischen Untergrund, schließlich seinen Überlebenskampf in KZ-Haft und beim Untergang der Cap Arcona. Immer wenn das Thema Krieg, KZ und Haft aufgekommen sei, habe er den Raum verlassen. Begleitet von seinen beiden Kindern Michelle und Marc Andrew sprach er darüber, wie das Desinteresse der Australier seinem Versuch zu vergessen dabei half. Selbst seiner Frau gegenüber wurde die NS-Zeit ausgespart. Dies hing nicht zuletzt auch mit einer Art von Überlebensschuld zusammen, die er viele Jahrzehnte in sich trug. Erst als sein Sohn ihn fragte: „Marian, was hast Du während des Krieges in Europa gemacht?“ und erst als er von ihm gebeten wurde, seine Geschichte auch für die Enkeltochter aufzuschreiben, brach sein selbst auferlegter Bann des Schweigens. Michelle, Marians Tochter, wählte einen anderen Weg. Sie studierte Judaistik, reiste nach Polen. Sie habe sich auf die Suche nach dem Spezifischen des Europäischen Massenmordes und der Verfolgung begeben.
Besonders nah waren auch die Berichte von Dagmar Lieblovà aus Tschechien und Gloria Hollander Lyon aus den USA. Begleitet von ihren Kindern Rita Mcleod und David Lyon kam in ihren Erzählungen zutage, wie stark die jeweilige Aufarbeitung der Haftzeit das Familienleben prägte. Beide Kinder seien „natürlich“ mit den Geschichten ihrer Mütter groß geworden, auch war das Fehlen von Familienangehörigen eine spürbare Lücke. Es unterschied sie von Kindern, die keine Verbindung zum Holocaust hatten. Rita ist davon überzeugt, dass sie eine intensivere, andere Beziehung zu ihrer Mutter habe als andere Töchter. Sie habe es nie als Bürde empfunden, Tochter einer Holocaust-Überlebenden zu sein und den Namen ihrer ermordeten Tante zu tragen. Auch sei es für sie normal deshalb immer besonders gut sein zu müssen. Dies sei ihr am Ende durch ihre Auswanderung nach Kanada nicht wirklich gelungen, kommentierte Dagmar auf liebevolle Weise. Trotz der Entfernung blieb Rita ihrer Mutter eng verbunden. So inszeniert sie seit 2004 in West-Kanada die Kinderoper „Brundíbar“, 2009 begleitete sie Dagmar anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten nach Theresienstadt. David, Sohn von Gloria Hollander Lyon war das erste Mal am Ort eines ehemaligen KZ. Er verriet, dass Gloria nach einem Besuch ihrer Haftorte heimlich eine Flasche in die USA einführte, die das Salz aus der Helmstedt-Beendorfer Stollen enthielt, in dem sie damals V2-Raketen zu produzieren hatte. Seither werde bei jedem Pessach-Fest das Gemüse mit einer Prise dieses Salzes gewürzt. „To take the Salt of Slavery“ sei zu einem festen Familienritual geworden. Auch über den Holcaust zu sprechen sei seit 1977 und bis heute fester Bestandteil ihrer Identität und der Identität ihrer Familie gewesen.
Die Tagung machte deutlich, wie wenig die Second und Third Generation die Primärerfahrung ihrer Eltern ersetzt, wohl aber Verantwortung übernimmt und Einfluss gewinnt auf den Fortgang des Erinnerungsdiskurses. Die Vertreter der Second und Third Generation sind im Unterschied zur First Generation vor allem Zeitzeugen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach 1945 und Zeitzeugen des Erinnerns. In diese Richtung professionalisieren sie sich. Sie tragen bewusst Mitverantwortung für ein Nichtvergessen. Hédi Fried fand hierfür die Worte: „In every family there is one child that carries on the Holocaust Candle.” Jeder Teilnehmer konnte dies auf ganz unterschiedliche, manchmal besonders berührende Weise auf der Tagung erfahren. Es war keine wissenschaftliche Konferenz, sondern Auftakt zu einem intergenerationellen und intererinnerungskulturellen Dialog – ein Experiment.
Konferenzübersicht:
Karin Heddinga
Hédi Fried/Yael Fried/Samuel Fried
Nordeuropa/Northern Europe
Marco Kühnert
Kitty Hard-Moxon/Peter Charles Hard
Westeuropa/Western Europe
Heidburg Behling/Melani Klarič
Emil Lakatos/Milos Poljansek/Tadeja Poljansek
Südosteuropa/South-Eastern Europe
Philipp Oelze/Georg Erdelbrock/Julia Konossova
Ljudmilla Subowskaja/Natalija Jarmak/Tadeusz Krystyniak
Maria Krystyniak/Grigori Kulbaka/Jelisaweta Dschirikowa/
Ksenija Maximovna Olchova
Osteuropa/Eastern Europe
Ulrike Jensen
Dagmar Lieblová/Rita McLeod
Tschechien/Czech Republic
Michael Gill
Marian T. Hawling/Marc Andrew Hawling/Michelle Hawling
Australien/Australia
Kathrin Herold
Gloria Hollander Lyon/David Hollander Lyon
USA
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Carola Rudnick. Review of , Überlebende und ihre Kinder im Gespräch.
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