Lutz Musner. Der Geschmack von Wien: Kultur und Habitus einer Stadt. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2009. 295 S. ISBN 978-3-593-38897-7.
Reviewed by Marc Schalenberg
Published on H-Soz-u-Kult (July, 2009)
L. Musner: Der Geschmack von Wien
Fiaker, Kaffeehäuser, Beisln, Heuriger, Walzer, Riesenrad, Stephansdom, Schönbrunn… Die Liste der Wien-Klischees ist lang und erstaunlich veränderungsresistent. Auch neuere Reiseführer und Szene-Magazine perpetuieren ein „whipped cream“-Image der Stadt als l(i)ebenswert verlangsamten, vielfältigen Genüssen offenen, von Theater und Musik, Gemütlichkeit und Charme durchzogenen Mikrokosmos. Noch die ärgsten Kritiker der Kehrseiten hofzuckerbäckersüßer Fassaden und kleinbürgerlicher Selbstgefälligkeiten wie Karl Kraus, Helmut Qualtinger oder Thomas Bernhard konnten es allenfalls ankratzen, nicht aber auflösen.
Den Gründen und Implikationen dafür geht der mit dem Gegenstand bestens vertraute Wiener Kulturwissenschaftler Lutz Musner in seiner (ausgerechnet in Berlin eingereichten, jetzt in überarbeiteter Form publizierten) Habilitationsschrift nach. In post-ideologiekritischer Manier und mit großem synthetischen Geschick verknüpft der Autor diverse Kulturerscheinungen – ikonische Bauten und Bilder, Texte, Ernährungsgewohnheiten, touristische Praktiken und deren Vermarktung, aber auch (stadt-)politische Debatten und (wirtschafts-)geographische Faktoren – zur „Geschmackslandschaft“ Wien, die einen spezifischen Habitus ausgeprägt habe. Letzteren umkreist Musner, vor allem an Rolf Lindner anknüpfend, in immer neuen Definitionsversuchen; der Habitus sei durch „das Wechselspiel von Geschichte und Gedächtnis moduliert[e] lokal[e] Stadtkultur“ (S. 7), einerseits pfadabhängig, andererseits aber auch dynamisch (S. 44f.), eher auf einer mentalitären, dispositiven Ebene angesiedelt, aber in konkreten Situationen, Praktiken und Orten am deutlichsten zu erkennen (S. 47), eine Art generative Grammatik (S. 49) mit „toposstiftenden Funktionen“ (S. 56). In dem zentralen Kapitel „Die Stadt und ihr Double“ (S. 89-136) legt Musner anhand von Beispielen aus Literatur, Film und Reiseführern dar, wie sehr Wien in diversen Medien und über verschiedene historische Kontexte hinweg ein „Gewebe bedeutungsstiftender Verschaltungen“ (S. 136) erhalten hat, das Erwartungen strukturiert und der realen Erfahrbarkeit vorgängig ist. Nicht zuletzt habe es sich als langlebig und elastisch genug erwiesen, um auch die dunklen Seiten der Stadtgeschichte zu absorbieren, ohne vehemente erinnerungspolitische Kämpfe ausfechten zu müssen.
Die dargelegten historischen Zusammenhänge geben dabei das derzeitige (Handbuch-) Wissen wieder und verstehen sich nicht als Beiträge zu bestimmten Forschungsfragen. Überhaupt werden Historiker, die neue Erkenntnisse vornehmlich aus frisch gehobenen Archivschätzen und aus kleinteilig ausgebreiteten Kausalketten erwarten, der Arbeit wenig abgewinnen können, da sich der Verfasser praktisch ausschließlich auf publiziertes oder gar stadträumlich „evidentes“, weithin bekanntes und interpretiertes Material stützt; noch die wenigen empirisch-quantifizierenden Einsprengsel – eine Umfrage zur Nutzung des 2001 eröffneten Wiener „MuseumsQuartiers“ (S. 228 ff.) sowie eine 2003 durchgeführte Interviewserie zu Wien-Stereotypen (S. 174) – basieren nicht auf eigenen Recherchen des Autors, sondern auf Referat. Geradezu als Fremdkörper erscheint hingegen das 8. Kapitel („Spätmoderne Transformationen einer Kulturstadt“, S. 243-257), das weitgehend textidentisch mit einem Beitrag ist, den ursprünglich zu einer anderen Publikation beigesteuert zu haben Musner nicht verschweigt Lutz Musner, Ist Wien anders? Zur Kulturgeschichte der Stadt nach 1945, in: Peter Csendes / Ferdinand Opll (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien 2006, S. 739-819, hier: S. 779ff. . Es zeichnet sich durch einen stilistisch und thematisch deutlich abweichenden Zugriff aus und führt zu Redundanzen mit anderen, „originelleren“ Abschnitten des vorliegenden Buches. Ansonsten wäre, neben einem fehlenden Index, eigentlich nur die bescheidene Reproduktionsqualität der 19 aufgenommenen, für die Argumentation durchaus wichtigen Schwarz-weiß-Abbildungen zu bedauern.
Mit Ausnahme des methodologisch akzentuierten Kapitels „Kultur und Habitus der Stadt“ (S. 25-57), in dem einige der neueren stadttheoretischen Diskussionen beleuchtet und bewertet werden, stehen Wiener Eigenheiten eindeutig im Zentrum der Beschreibungen und der Analysen; die mitunter eingeflochtenen Vergleiche zu anderen Metropolen – vor allem Paris und Berlin, daneben auch London, Budapest, St. Petersburg oder New York – erfolgen eher in kontrastiver denn in systematisch vergleichender Absicht. Eine strenge Sukzession in der Anlage des Buches (etwa chronologisch, problemgeschichtlich oder nach Genres) gibt es nicht, eher eine Abfolge gleichsam kubistisch komponierter, in sich stringent argumentierter bzw. referierter Miniaturen. Sollte dem eine „cut and paste“-Technik zugrunde liegen, dann auf hohem Niveau, denn keiner der mannigfachen Blickausschnitte ist lediglich Selbstzweck, sondern alle fügen sich ein in das mitunter akrobatisch geflochtene Netz von Querverbindungen, die wiederum weder einer kulturalistischen noch einer ökonomistischen noch sonstigen Blickverengung auf die „Geschmackslandschaft“ Wien unterliegen. Dieses „surplus“ – ein Begriff, den der Autor selber im Zusammenhang der postfordistischen Städtekonkurrenz und Kreativwirtschaft favorisiert – der Arbeit sollte deutlich heraus gestellt werden. Die bisweilen fehlende empirische Dichte und Vertiefung wird allemal aufgewogen durch das breite theoretische und eben auch analytisch-reflexive Panorama über eine integral verstandene „Stadtkultur“ hinweg, die Musner als „charakterologische Einheit symbolischer Ausdrucksformen“ (S. 37) mit spezifischem „Entwicklungsmuster“ (S. 86) verstehen will.
Eine vielleicht paradoxe Konsequenz ist freilich nicht zu übersehen: So sehr die Konstruiertheit der besprochenen Phänomene aufgeschlüsselt wird (ihre kulturelle Einbettung, politische Interessenlagen, wirtschaftliche Imperative, mediale Codierungen, etc.), so sehr auch auf die nicht- bzw. nicht vollständig deterministischen Aspekte des Habitus rekurriert wird, so sehr kommt es doch im Ergebnis zu einer Rehabilitierung des „Wesentlichen“. Bereits durch die Auswahl der analysierten Gegenstände wird ein Stadtimage (re-)konstruiert, dessen reale Korrelate man auch künftig eher suchen und beurteilen wird als hier unerwähnt Gebliebenes; insofern ist die Studie selber ein Beitrag zur Kanonisierung des charakteristisch Wienerischen. „Wien ist anders“ (Kap. 1, S. 7-24), aber Wien bleibt Wien, muss man demnach schlussfolgern, wenn man nach der fraglos lohnenden Lektüre das Buch zuschlägt und die Fotografie des Stadtpark-Denkmals mit dem Geige spielenden Johann Strauß auf dem Cover erblickt. So schlendert man mit Musner als kulturwissenschaftlichem Cicerone im Gepäck gerne, intellektuell angeregt, sicher nicht unkritisch, aber unwillkürlich „gemütlich“ durch Wien.
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Citation:
Marc Schalenberg. Review of Musner, Lutz, Der Geschmack von Wien: Kultur und Habitus einer Stadt.
H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews.
July, 2009.
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