Karl Dietrich Bracher. Geschichte als Erfahrung: Betrachtungen zum 20. Jahrhundert. Stuttgart u.a.: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001. 320 S. (gebunden), ISBN 978-3-421-05444-9.
Reviewed by Susanne Schattenberg
Published on H-Soz-u-Kult (March, 2002)
K. D. Bracher: Geschichte als Erfahrung
Autohistory ist ein Genre, das sich immer größerer Beliebtheit erfreut und von einer älteren Generation von Wissenschaftlern genutzt wird, um im Kontext ihrer eigenen Biographie über ihren Wissenschaftszweig und dessen Entwicklung nach dem Krieg zu reflektieren. Siehe z.B. Clifford Geertz, After the Fact. Two Countries, Four Decades, One Anthropologist, Harvard UP 1996. Auch das Einsteinforum Potsdam hat in Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek zu Berlin eine neue Vortragsreihe zum Thema „Blickwechsel. Perspektiven der Wissenschaft: Wissenschaftsgeschichte“ gestartet, das erstmals in dieser Art dem Rückblick der Vortragenden auf das bislang Erreichte Raum bietet. Karl Dietrich Brachers Monographie stellt sich nicht so offensichtlich in diese Reihe und ist erst auf den zweiten Blick als persönliche Geschichte und Geschichte seines Wissenschaftszweigs zu erkennen.
Für die Lektüre und Einordnung der Schrift wirkt erschwerend, dass der Band eine Zusammenstellung verschiedenster Texte – Reden, Laudationes, Aufsätze und nicht zuletzt zweier Interviews mit Bracher – ist, ohne dass dies eingangs erwähnt würde. Der Versuch, die Beiträge zu einer Monographie zu verschmelzen, kann nur bedingt als gelungen bezeichnet werden: Die Texte sind in drei Abschnitte gegliedert („Das Jahrhundert als Epoche“, „Geschichte als Erfahrung“, „Zeitgeschichte und Gegenwart“), ohne dass diese wirklich kontingente Blöcke ergäben; durch die Aneinanderreihungen kommt es statt dessen zu erheblichen Redundanzen. Ein Blick auf die Quellen der Texte bestätigt zudem den Eindruck, dass hier nicht immer ein Fachpublikum angesprochen wird. Die Zahl der Fußnoten und Belege ist dementsprechend gering; eine Einleitung im klassischen Sinne fehlt. Brachers Ziel war es nicht, neue Anätze oder Theorien zur Geschichte des 20. Jahrhunderts zu diskutieren. Vielmehr blickt er zurück auf das von ihm und seiner Disziplin Erreichte und Geleistete.
Am besten erschließt sich der Band, wenn man die „Betrachtungen“ Brachers in Beziehung zu den zwei mit ihm geführten und hier erst am Ende des Buches abgedruckten Interviews setzt und damit das einmal stärker, ein anderes Mal schwächer sichtbare Band zwischen Brachers Geschichtsschreibung und seiner persönlichen Biographie stärker hervortreten lässt. V.a. das Gespräch mit Werner Link aus dem Jahr 1997 gibt Aufschluss darüber, warum Bracher die Geschichte des 20. Jahrhunderts – namentlich das Scheitern der Weimarer Republik, „die deutsche Katastrophe“ des Nationalsozialismus und die DDR als „zweite deutsche Diktatur“ – als „Erfahrung“ verstanden haben will, aus der gelernt wurde und weiter gelernt werden soll (S. 123, 145, 155). Sein Erfahrungsbegriff entspringt keinem kulturgeschichtlichem Ansinnen, Geschichte als subjektives Erleben zu erforschen.
Erfahrung ist für ihn eine objektive politisch-historische Größe, das, was an lehrreichen Einsichten am Ende von einer Epoche übrig bleibt, ein handlungsleitendes Motiv sowohl für das Individuum als auch für die Politik: „Auch nach der Jahrhundertwende werden Politik und Kultur der Gegenwart [...] weiterhin im Zeichen tief einschneidend erlebter und zu Erfahrung verarbeiteter Geschichte stehen und auf die Einsicht und die Kraft angewiesen sein, die daraus für eine Gestaltung der Zukunft zu gewinnen ist.“ (S. 11)
Bracher schaut nicht nur allgemein am Ende des 20. Jahrhunderts, der Epoche des Totalitarismus und der Ideologien, zurück. Er tut dies persönlich aus der Warte des Historikers, der über sein Lebenswerk reflektiert. Dabei wird er nicht müde zu betonen, dass Politikwissenschaft und Zeitgeschichte nach seinem Verständnis die Funktion haben, aufzuklären und Werte zu vermitteln: „Denn es sollte nicht zuletzt auch eine Art von politischer Bildungsarbeit geleistet werden. Das war das große Anliegen nach 1945, mag man es heute polemisch als ‚volkspädagogisch’ abtun.“ (S. 285) So ist der vorliegende Band ein ebenso politisches wie persönliches Dokument.
Für Bracher selbst stand hinter seiner wissenschaftlichen Entwicklung immer die Frage, wie Weimar hatte zusammenbrechen und Hitler aufsteigen können: „Die Machtfrage hat mich immer schon beschäftigt.“ (S. 282) Die eigene Kriegserfahrung sowie die anschließende, anregende Zeit von drei Jahren Kriegsgefangenschaft in den USA brachten ihn zur Geschichtswissenschaft und machten ihn nach seinem Studium in Tübingen und Harvard zu einem der Mitbegründer der Zeitgeschichte sowie der Politikwissenschaft in Deutschland. Zu seinen eigenen prägenden Erfahrungen gesellte sich die Geschichte seiner Frau, Dorothee Bracher, Tochter des hingerichteten Widerstandskämpfers Rüdiger Schleicher. Ihm und seinem Freund, dem als Jungen aus Deutschland emigrierten Historiker Peter Gay, widmet Bracher hier je einen eigenen Beitrag, die aus der Reihe der sonst allgemein gehaltenen Texte fallen. Vor diesem persönlichen Hintergrund erhalten die anderen sonst etwas antiquiert wirkenden politikgeschichtlichen Beiträge eine ganz neue Aussagekraft und Prägnanz.
Sie drehen sich um die drei deutschen „Haupt“–Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: den Zusammenbruch Weimars, den Nationalsozialismus sowie die DDR. Seine Geschichtsschreibung will Bracher als Mischung aus Struktur- und Personengeschichte verstanden wissen (S. 54). So kommt er von den Spannungen des Bismarckreichs zur geringen Vorbereitung der Bevölkerung auf die Weimarer Republik, bei der er länger verweilt, um den Kunstschaffenden der zwanziger Jahre ihren verantwortungslosen Umgang mit der jungen Demokratie vorzuhalten (S. 184). Weiter geht er vom Führerprinzip und dem Prinzip der Kampf- und Kriegsgemeinschaft des Nationalsozialismus zur Ablehnung und Entwöhnung vieler Deutscher von pluralistischer Demokratie als Grundlage für die DDR. Für die Entwicklung der BRD macht er als eine wichtige Kraft den Antitotalitarismus aus.
Der verhängnisvolle „zentrale Faktor“ für die Geschichte des 20. Jahrhunderts waren für Bracher aber die Ideologien (S. 15). Er nennt das 20. Jahrhundert eine „Zeit der Ideologien“, gliedert seine Geschichte als Konjunktur der verschiedenen Ideen und beschreibt auch die 68er Bewegung als neuen Höhepunkt ideologischen Denkens (S. 27), hoffend, am Ende des Jahrhunderts stehe der vorsichtige Umgang mit absoluten Ideen (S. 17). Bracher insistiert, dass der Nationalsozialismus nicht hinreichend als Faschismus zu erklären sei, sondern nur als deutsches Phänomen verstanden werden könne. Dessen Wurzeln sieht er in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, um sich damit gegen den Begriff vom „kurzen“ 20. Jahrhundert auszusprechen.
Am Ende dieses Jahrhunderts, das für Bracher nicht nur eines der Diktaturen, sondern auch ihrer Überwindungen in Deutschland sowie Osteuropa war, stellt er die europäische Integrationspolitik als logische Konsequenz aus der historischen Erfahrung. Mit der EU und den Maastricht-Verträgen werde folgerichtig und notwendig der Nationalstaat als veraltetes Produkt des 19. Jahrhunderts, in dessen Namen viel Leid und Unrecht geschah, Minderheiten verfolgt und ethnische Säuberungen durchgeführt wurden, endlich abgelöst.
In diesem Rahmen rechtfertigt Bracher noch einmal, dass er bereits 1976 die DDR als „zweite deutsche Diktatur“ bezeichnet hatte, womit er damals auf viel Ablehnung gestoßen war. Ausdrücklich ging und geht es ihm nicht um eine Gleichsetzung, wohl aber um den vorurteils- bzw. ideologiefreien Vergleich von Diktaturen. Im Rahmen seines aufklärerischen Anspruchs hält er eine restlose Aufarbeitung auch dieses Teils der deutschen Geschichte für die unabdingbare Voraussetzung für eine stabile Demokratieentwicklung in Ostdeutschland. Den Ausspruch „Bonn war nicht Weimar“ versteht Bracher nicht nur als Tatsachenfeststellung, sondern v.a. auch als Imperativ (S. 240). In seinem Plädoyer für eine stabile, wehrhafte Demokratie diskutiert er auch das Für und Wider eines Verbotsantrag gegen die NPD (S. 236).
Bracher schließt mit Unmutsbekundungen über die jüngsten Entwicklung in der Politikwissenschaft, die sich einer Sprache bediene, die von der Allgemeinheit nicht mehr verstanden werde und sich nicht mehr als staatsbürgerliche Aufklärung bzw. Wissenschaft für die Demokratie verstehe. Die Quintessenz seiner Autohistory lautet: „Eine Generation, die noch wie der Verfasser aus jener älteren Zeitgeschichte kommt, fühlt sich nun, nach dem hoffentlich nachhaltigen Sturz auch des kommunistischen Totalitarismus, mehr denn je dem Bemühen verpflichtet, den unwiederbringlichen Verlust aus den Jahrzehnten diktatorischer Verfinsterung als Erfahrung und Mahnung zu bewahren und den langen Prozeß geschichtlicher und kultureller Wiederaneignung zu fördern, ohne freilich in Epigonentum zu verharren oder gar in alte Fehler zurückzufallen.“ (S. 185)
Als Zeugnis über die persönliche Historiographiegeschichte, die politische Motivation und den historischen Kontext der eigenen Arbeit sollte dies Buch mehr als autobiographisches Dokument und zeitgenössische Quelle denn als Sekundärtext gelesen werden, auch wenn das Buch darin unentschieden bleibt, was es sein möchte: Wissenschaft oder Reflexion darüber.
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Susanne Schattenberg. Review of Bracher, Karl Dietrich, Geschichte als Erfahrung: Betrachtungen zum 20. Jahrhundert.
H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews.
March, 2002.
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