Keith Neilson. Britain, Soviet Russia and the Collapse of the Versailles Order. Cambridge: Cambridge University Press, 2006. 379 pp. $96.00 (cloth), ISBN 978-0-521-85713-0.
Reviewed by Stefan Scheil (Independent Scholar)
Published on H-German (September, 2006)
Der fremde Kontinent
Keith Neilson verspricht eine Neuinterpretation der internationalen Beziehungen im Zeitraum zwischen 1919 und 1939. Dabei will er die gängigen Erklärungsmuster überwinden, die in Phänomenen wie "Appeasement" oder allgemein dem "Verfall des britischen Empire" die entscheidenden Faktoren für den Kollaps der Versailler Ordnung sehen. Der Autor hebt andere Faktoren hervor und nennt als Beispiele den unzureichenden Einsatz der nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten neuen Mittel der internationalen Politik wie der Rüstungskontrolle oder den Völkerbund. Als Angelpunkt nimmt seine Darstellung die britisch-sowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Um sie herum will er dann im weiteren die Verhandlungen der englischen Regierung mit Deutschland, Italien und Japan in ein neues Licht setzen.
Als Quellen zieht der Autor in großem Umfang britisches Aktenmaterial aus den National Archives heran, dem früheren Public Record Office. Dazu kommen private Nachlässe britischer Diplomaten und Politiker, schließlich wird in großem Umfang englischsprachige Sekundärliteratur berücksichtigt. Anhand dieser Quellenauswahl werden Nutzen und Grenzen der Darstellung bereits sichtbar. Der Focus sowohl der Quellen wie der Darstellung liegt fast vollständig auf der englischen Binnenperspektive.
Bereits der erste Augenschein macht dies deutlich. Der Bucheinband zeigt eine Karikatur aus dem Jahr 1939, auf der die beiden Außenminister Halifax und Ribbentrop zur Zeit der russisch-englisch-französischen Gespräche im Sommer 1939 den russischen "Bären" jeweils mit Leckereien umwerben. Schließlich hatte Ribbentrop in der Augen der sowjetischen Regierung bekanntlich die besseren Leckereien zu bieten und die UdSSR schloß mit Deutschland im August 1939 den berüchtigten Nichtangriffspakt und das Teilungsabkommen über Osteuropa. Sie tat es, weil "die Westmächte nichts bezahlen wollten", wie Josef Stalin den Generalsekretär der Komintern Anfang September 1939 wissen ließ.[1] Wer nun bei Neilson nachschlägt, wird mit Erstaunen feststellen, daß der deutsche Außenminister Ribbentrop im Buch gar nicht vorkommt, ein Erstaunen, das nicht geringer wird, wenn man registriert, daß dies auch für bekannte Vorgänger wie Gustav Stresemann und für Ribbentrops italienischen Amtskollegen Ciano zutrifft.
Ebenfalls gilt dies für Georgij Dimitroff, den eben bereits erwähnten Generalsekretär der Komintern, dessen nach dem Zerfall der UdSSR edierte Tagebuchaufzeichnungen teilweise einen ganz neuen Blick in das Innenleben der Sowjetführung gestattet haben. Neilson hat diese Quelle nicht berücksichtigt. Sie fiel offenbar einem generellen Verdikt des Autors gegenüber "kontinentalen" Quellen aller Art zum Opfer, denn weder französische noch deutsche oder sowjetische Akteneditionen oder Historiker wurden konsultiert, noch kommen kontinentale Zeitgenossen aus eigener Darstellung zu Wort. Nicht einmal dem sowjetischen Botschafter Maiskij, der die sowjetischen Interessen in London jahrelang vertrat und darüber umfangreiche Memoiren hinterließ, wird diese Ehre zuteil.
Auf dieser einseitigen Quellenbasis läßt sich eine Gesamtdarstellung der Gründe für den Zerfall der Versailler Ordnung nicht verfassen. Gerade wer beispielsweise das Versagen der Rüstungskontrolle richtigerweise zu den wesentlichen Gründen des Scheiterns der Versailler Ordnung zählt, wird etwa an dem deutsch-englischen Flottenabkommen von 1935 nicht vorbeigehen können. Mit ihrer Unterschrift setzte sich die englische Regierung ohne Konsultation der anderen Vertragsmächte über die Versailler Vertragsbestimmungen hinweg und ließ den Versailler Vertrag insgesamt politisch wertlos werden. Spätestens hier kollabierte die Versailler Ordnung unwiderruflich, nachdem zuvor bereits die Rüstungsbegrenzung zu Land gescheitert war. Verhandlungspartner der englischen Regierung bei diesem Schritt von 1935 war der bei Neilson nicht erwähnte Ribbentrop, der dabei als Sonderbeauftrager auftrat und dann zwischen 1936 und 1938 als Botschafter in London erfolglos versuchte, diesem Abkommen ein deutsch-englisches Bündnis folgen zu lassen.
Eine Neubewertung der europäischen Politik der Zwischenkriegszeit und ihrer Methoden insgesamt leistet Neilson daher nicht. Dennoch ist dies in seinen Grenzen ein lesenswertes Buch. Was der Autor statt einer Gesamtschau auf Europas Politik liefert, ist eine detaillierte Darstellung der innerenglischen Entscheidungsprozesse und Befindlichkeiten. Sie beruhten offenbar unter anderem auf handfesten und zu einem gar nicht kleinem Teil noch aus den Zeiten des Kaiserreichs stammenden Klischees über Deutschland, die etwa von Robert Vansittart und Eyre Crowe in der Nachkriegszeit weiter gepflegt wurden. Dazu kamen vielfältige Mutmaßungen über die sowjetischen Absichten, die viel zu selten anhand konkreter Fakten überprüft wurden. Schließlich hing viel von den Beziehungen zwischen den Persönlichkeiten ab, die jeweils am Kabinettstisch oder in den Ministerien die englische Politik formulierten. Sie formulierten sie nicht geradlinig. Eine energische Aufrüstung und den Übergang zu Machtpolitk unter Einsatz militärischen Drucks konnte England weder finanzieren noch fand eine solche Haltung die nötige innenpolitische Zustimmung. So schwankte die Politik des Empire in ihren Zielen und Methoden zwischen Völkerbund, Abrüstung und imperialem Gehabe hin und her.
Neville Chamberlain gab der englischen Außenpolitik dann eine kontinuierliche Richtung, die ihr vor 1937 gefehlt hatte, wie der Autor schreibt (S. 330 f.). Chamberlains Versuch, Italien und Deutschland "auszukaufen", sei aus dessen Neigung entstanden, die Welt wie ein Händler zu sehen (S. 332). Keith Neilson stuft dies als einen Versuch in rationaler Außenpolitik ein, der weder aus Defaitismus noch aus Sentmentalität für bestimmte Länder oder Ideologien geboren worden sei. Er scheiterte an der Realität jener Jahre, unter anderem an Stalins und Hitlers Zielen. Viele Mächte wollten die Versailler Ordnung nicht akzeptieren, Großbritannien fand nicht die Mittel, sie zu erhalten oder kontrolliert umzuwandeln. Dies ist ein nüchterner Befund.
Note
[1]. Vgl. Georgij Dimitroff, Tagebücher (Berlin: Aufbau-Verlag, 2000), Eintrag vom 7. September 1939, S. 195.
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Citation:
Stefan Scheil. Review of Neilson, Keith, Britain, Soviet Russia and the Collapse of the Versailles Order.
H-German, H-Net Reviews.
September, 2006.
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