Uwe Lübken. Bedrohliche Nähe: Die USA und die nationalsozialistische Herausforderung in Lateinamerika, 1937-1945. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004. 438 S. EUR 50.00 (cloth), ISBN 978-3-515-08509-0.
Reviewed by Stefan Scheil (Independent Scholar)
Published on H-German (April, 2006)
Zwischen Fakten und Fiktionen
Wenn eine expansive Außenpolitik angesichts der Gefahr kriegerischer Verwicklungen öffentlich gerechtfertigt werden mußte, dann ist dafür wohl kaum eine Begründung öfter strapaziert worden als die, man reagiere nur auf eine Bedrohung durch andere. Dieses Motiv, manchmal ehrlich vorhanden, sehr häufig aber nur vorgeschoben, diente vielen Staatsmännern zur Entschuldigung. Unter ihnen befand sich Franklin Delano Roosevelt, der zwischen 1933 und 1945 in zahlreichen Reden eine unvermeidliche und konkret geplante Invasion ausländischer Mächte auf dem amerikanischen Doppelkontinent beschwor. Gemeint waren damit in erster Linie Japan und das nationalsozialistische Deutschland. Ob der Präsident und seine Administration damit ehrlicherweise auf eine befürchtete und vielleicht gar realistische Absicht der Dreimächtepaktstaaten reagierten, oder (wie manche Zeitgenossen im isolationistischen Lager bald vermuteten) lediglich die Ängste der amerikanischen Bevölkerung zum eigenen Vorteil manipulierten, diesen Fragen geht Uwe Lübken in seiner 2001 in Köln als Dissertation angenommen Arbeit unter anderem nach.
Lübken beginnt chronologisch orientiert, mit einem Blick auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen und die Konkurrenz beider Staaten um Lateinamerika bis 1937. Dem folgen Abschnitte über den Beginn der akuten Spannungsphase 1937/38, über Hitlers "Fünfte Kolonne" in Lateinamerika und über die Nutzbarkeit des Schlagworts "Hemisphere Defense" sowohl als Begründung einer isolationistischen, wie auch einer interventionistischen Politik. Ein Ausblick auf den nach 1945 recht fließenden Wechsel des amerikanischen Bedrohungsbildes von der nationalsozialistischen zur kommunistischen Bedrohung schließt den Band ab, der sich auf ausgiebiges Quellenstudium stützen kann.
Da er als Ziel der Arbeit angibt, das Ausmaß und den zeitlichen Verlauf dieser Befürchtungen in den USA zu untersuchen, wählt der Autor überwiegend die amerikanische und besonders die Binnenperspektive der Roosevelt-Administration als Untersuchungsgegenstand. Er dokumentiert daher über weite Passagen die von dieser Regierung aufgestellten Behauptungen über direkte und indirekte Bedrohungen Lateinamerikas. In der Tat kann Lübken zeigen, wie sich die Konstruktion eines solchen Szenarios als eine Art kommunikative Leitfigur durchsetzte und nur noch wenig hinterfragt wurde. Wer im Frühjahr 1941 bei den Hearings zur Ernennung der Minister für die neue Amtsperiode diese Denkfigur in Frage stellte, wie es manche Isolationisten mit Blick auf die USA immer noch taten, der hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt und geriet ins Abseits. Kriegsminister Henry Stimson konnte daher im Hearing von drohenden deutschen Luftlandungen in Nordamerika sprechen, ohne in die Kritik zu geraten.[1] Dies war neu, denn der Senatsausschuß für Flottenfragen hatte im Frühjahr 1940 in einem Dokument, das Uwe Lübken als "zentral" charakterisiert, eine direkte Bedrohung der USA praktisch ausgeschlossen, ausdrücklich auch eine solche durch deutsche Flugzeuge (S. 87).
Lübken trennt leider sprachlich nicht immer konsequent zwischen Fiktionen und Realitäten. Deutlich wird dies etwa, wenn er in der Schlußbetrachtung von den "neuen Techniken der Kriegsführung" spricht, "allen voran des Flugzeugs und der Fünften Kolonne" "die dem Deutschen Reich einen machtpolitischen Vorteil gebracht" und unter anderem Auswirkungen auf Südamerika gehabt hätten (S. 396). Zuvor weist er jedoch im Text darauf hin, daß in Lateinamerika von einer deutschen Kriegsführung via "Fünfter Kolonne" nicht gesprochen werden konnte und läßt die amerikanische Angst davor allenfalls als zeitgemäßes, angesichts der überraschenden deutschen Erfolge seit 1938 entschuldbares Phänomen gelten (S. 231). Da deutsche Flugzeuge den amerikanischen Kontinent nicht erreichen konnten, erwiesen sich die vorteilhaften neuen Techniken in Bezug auf die Fragestellung als irrelevant und die im Titel benannte "nationalsozialistische Herausforderung in Lateinamerika" gar als Fiktion. Denn ohnehin, so zitiert Lübken zustimmend Jürgen Müller, hatte "Lateinamerika keinen Platz in Hitlers außenpolitischen Zielsetzungen.... Die Region war niemals Objekt eines Weltherrschaftsplanes" (S. 66). Genau dies aber hatte der amerikanische Präsident behauptet und sich dabei unter anderem auf Landkarten gestützt, die ihm angeblich vorlägen. Sie stellten sich dann als englische Fälschungen heraus. Inwieweit hier nicht nur gefälschtes Material möglicherweise irrtümlich benutzt, sondern bewußt Unwahrheiten verbreitet wurden, dieser Frage geht der Autor leider kaum nach. Der eingangs versprochene Abgleich zwischen "perzipierter Realität der Zeitgenossen und der durch die Forschung rekonstruierten Vergangenheit" (S. 18) wird nicht konsequent eingelöst.
Zu Hermann Rauschnings auch in den USA verbreiteten Schriften über Hitlers Endziele stellt sich der Autor auf den Standpunkt, interessant sei weniger die Frage der Echtheit--sie waren in der Tat zum Teil eine mit finanzieller Unterstützung der polnischen Vorkriegsregierung entstandene, bzw. durch das französische Außenministerium verbreitete Fiktion[2]--als ihr großer Einfluß auf die amerikanische Öffentlichkeit (S. 67). Wenn jedoch, wie Lübken schreibt, auch das FBI ohne Quellenangabe offenbar unrichtige Äußerungen von NS-Größen verbreitete und unter anderem Hitler selbst ein Zitat unterschob, in Amerika über "unsichtbare Armeen" Fuß fassen zu wollen (S. 67), dann wachsen Zweifel an seiner Ansicht, man habe es hier mit einer Art begründetem Irrtum der amerikanischen Regierung zu tun. Zu vieles wirkt bewußt vorgeschoben. Aber damit betrat die Roosevelt-Administration, wie gesagt, kein Neuland.
Notes
[1]. Cf. Stefan Scheil, _1940/41--die Eskalation des Zweiten Weltkriegs (München: Olzog, 005), S. 97f.
[2]. Jürgen Hensel and Pia Nordblom, eds., Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie (Osnabrück: Fibre, 2003), S. 139, 154.
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Citation:
Stefan Scheil. Review of Lübken, Uwe, Bedrohliche Nähe: Die USA und die nationalsozialistische Herausforderung in Lateinamerika, 1937-1945.
H-German, H-Net Reviews.
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