Oliver Steinert. "Berlin-Polnischer Bahnhof!" Die Berliner Polen: Eine Untersuchung zum VerhÖ¤ltnis von nationaler Selbstbehauptung und sozialem IntegrationsbedÖ¼rfnis einer fremdsprachigen Minderheit in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918). Hamburg: Kovacs, 2003. 352 pp. EUR 95.00 (cloth), ISBN 978-3-8300-0921-4.
Reviewed by Matthias Barelkowski (Universität Trier)
Published on H-German (April, 2006)
In Zeiten, da in Deutschland intensiv und kontrovers über die Integration von Immigranten diskutiert wird, erscheint es lohnend und interessant, einmal an einem Beispiel entsprechende Prozesse in der Vergangenheit zu untersuchen, um so Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen. Oliver Steinert hat dies für die Polen in Berlin in der Zeit zwischen 1871-1918 getan und, um es gleich vorweg zu nehmen: ihm ist damit ein interessante und lehrreiche Studie gelungen.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten inoffiziellen Schätzungen zufolge bis zu 100.000 Polen im Großraum Berlin, in der Stadt selbst waren es laut der Volkszählung von 1910 knapp 40.000. Sie stellten dort die mit Abstand größte Gruppe unter den fremdsprachigen Zuwanderern. Die überwiegende Mehrheit der Polen stammte aus den preußischen Ostprovinzen, insbesondere aus Schlesien. Polnischsprachige Saisonarbeiter aus Österreich und Russland kamen in weitaus geringerer Zahl und lebten während ihres mehrmonatigen Aufenthaltes zumeist in der Illegalität. Nach Ansicht des Verfassers der 2002 an der Universität Siegen eingereichten Dissertation hat sich die bisherige Forschung (gerade auch im Vergleich mit der Historiographie zu den Polen im Rhein-Ruhrgebiet) zu stark auf quantitative und deskriptive Aspekte im Vereinsleben der Berliner Polonia beschränkt. Ausgehend von der These, daß sich die Mehrheit der polnischen Zuwanderer in die Berliner Gesellschaft integrierte und anders als im Rhein-Ruhrgebiet keine polnische Subkultur entstanden ist, analysiert Steinert Voraussetzungen und Verlauf des Eingliederungsprozesses. Im Verlauf seiner Untersuchung, die auf der Auswertung von behördlichem Aktenmaterial, Zeitungen und einzelnen Erinnerungswerken polnischer Migranten beruht und erfreulicherweise - was leider nicht selbstverständlich ist - die polnische Forschungsliteratur berücksichtigt, wird rasch deutlich, daß sich die Eingangsthese vorbehaltlos bestätigen läßt. Ausgehend von einem präzise eingeführten Begriffsapparat arbeitet der Verfasser heraus, daß bei der Mehrheit der Berliner Polen der Anpassungsprozeß drei Etappen - Akkomodation, Akkulturation und Assimilierung - durchlief. Die polnische Community, der nationalbewußte Kern der Zuwanderergruppe, vermochte es nicht, die Maße der polnischen Zuwanderer von der deutschen Mehrheitsbevölkerung zu separieren und als Gegenkonzept zur Assimilierung eine dauerhafte polnische Subkultur nach Vorbild der Ruhrpolen zu kreieren.
Die von der polnischen Community geforderte Pflege der Muttersprache scheiterte am Integrationsdruck, dem sich die zumeist in ungelernten und Handwerksberufen tätigen Polen ausgesetzt sahen. Anders als in den preußischen Ostprovinzen blieb in Berlin die enge Verbundenheit von Katholizismus und polnischem Nationalismus weitgehend ein ideelles Konstrukt. Ein getrenntes gesellschaftliches Leben und die Etablierung eines eigenen Wirtschaftskreislaufes scheiterten an der fehlenden Attraktivität entsprechender Organisationen im Vergleich zu sozialdemokratischen und deutsch-katholischen Vereinen. Erleichtert wurde die Assimilation durch das Siedlungsverhalten der polnischen Zuwanderer, die keine in sich geschlossenen Wohnviertel aufbauten, sondern sich vielmehr an der sozialen Siedlungsstruktur der einheimischen Bevölkerung orientierten. Die antipolnische Propaganda in der deutsch-nationalen Presse veranlasste zahlreiche Polen - insbesondere Arbeiter und Handwerker - dazu, ihre polnische Herkunft zu verschleiern. Mit Abgrenzung und Radikalisierung reagierten lediglich die häufig zur "inteligencja" zu zählenden nationalbewußten Vertreter der Community.
In der Studie wir der Assimilierungsprozeß derart stark betont, daß man bezweifeln muß, ob alle im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach Berlin zugewanderten Polen überhaupt unter dem Begriff der Kolonie zusammengefaßt werden sollten. Es stellt sich die Frage, ab welcher Aufenthaltsdauer und bei welchen sozialen Indikatoren es gerechtfertigt sein könnte, polnischstämmige Zuwanderer - und deren Nachkommen - nicht mehr ohne Weiteres der Polonia zuzurechnen. Vielleicht hätte der Verfasser auf Grundlage seiner Quellen die Polonia von den seit längerer Zeit in Berlin lebenden und bereits assimilierten polnischstämmigen Zuwanderern eindeutiger abgrenzen können. Wünschenswert wäre auch eine intensivere Betrachtung der Rolle des polnischen Sportvereins "Sokó?" gewesen, der ja durchaus auch eine politische Bedeutung hatte und zudem wahrscheinlich für Verbindungen - nicht nur der Eliten - zwischen den unterschiedlichen polnischen Communitys in Preußen sorgte. Ein Blick in die "Bibliographie der deutsch-polnischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart" belehrt uns darüber, daß gerade diesem Thema in der polnischen Forschung erhebliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde.[1]
Ein knapper Exkurs, der anhand mehrerer Schaubilder die Situation der polnischen Zuwanderer im Ruhrgebiet mit denen in Berlin vergleicht, faßt die Besonderheiten der untersuchten Migrantengruppe anschaulich zusammen. Im Anhang finden sich Tabellen mit statistischem Material zum Siedlungsverhalten und zur Berufsstruktur der Berliner Polen.
Anmerkung
[1]. Andreas Lawaty, hrsg., Deutsch-Polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. 1900-1998, Band 1 (Wiesbaden: Harassowitz, 2000), S. 411-412.
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Citation:
Matthias Barelkowski. Review of Steinert, Oliver, "Berlin-Polnischer Bahnhof!" Die Berliner Polen: Eine Untersuchung zum VerhÖ¤ltnis von nationaler Selbstbehauptung und sozialem IntegrationsbedÖ¼rfnis einer fremdsprachigen Minderheit in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918).
H-German, H-Net Reviews.
April, 2006.
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