Alfred Haverkamp, ed. Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den SÖ¼dalpen--Kommentiertes Kartenwerk. Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 2002. EUR 169.00 (cloth), ISBN 978-3-7752-5623-0.
Reviewed by Andreas Rüther (Historisches Institut, Universität Gießen)
Published on H-German (March, 2005)
Europäisches Mittelalter als jüdisches Mittelalter
Der von Alfred Haverkamp herausgegebene Atlas stellt in drei Bänden[1] auf über hundert Karten und gut neunhundert Textseiten eine künftig unverzichtbare Grundlage zur Beschäftigung mit den Juden im mittelalterlichen Europa dar.[2] Das Umschlagbild aller Teilbände ziert ein gemeinsames Signet, das sich wie eine programmatische Aussage liest: Der Siegelabdruck der Augsburger Judengemeinde mit dem doppelköpfigen Reichsadler von 1298 bezeugt, daß diese Geschichte ein zugehöriger Part der ganzen europäischen (und deutschen) Geschichte war und keine besondere abgeschiedene neben einer allgemeinen Historie.[3] Ausgehend vom fränkisch-karolingischen Kernraum, der Landschaft zwischen Rhein und Maas und den angrenzenden Gebieten, verfolgen die Bearbeiter im Umgang mit der jüdischen Geschichte einen transnationalen Ansatz, indem sie acht moderne Nationalstaaten in fünf geographische Regionen aufgliedern.
Das Kernstück des schwergewichtigen Handbuches bildet die Kartentasche mit 105 Übersichten im Großfolioformat (66 x 48 cm). Dieser dritte Teil ist aufs engste verschränkt mit dem zweiten, der alphabetischen Erfassung von 1800 jüdischen Niederlassungen, die durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Faltblatt vorbildlich erschlossen sind. Das Gliederungsschema dieser Ortsartikel fächert den Zeitraum jüdischer Niederlassung hinsichtlich formelhaftem Beleg, geplanter Ansiedlung, Herkunftsbezeichnung oder Martyrologbeleg auf. Der Katalog weist Ausstattung und Topographie, Bezeichnung als Gemeinde, Führungsgremien oder Vorsteher, Siegel, Friedhof, Synagoge, Mikwe, Gemeinschaftshaus, Hospital und Judengasse nach.[4]
Die sechzehn Abhandlungen des ersten Bandes sind wiederum feingliedrig bezogen auf die Kartenausschnitte und Kartenerläuterungen. Sie stellen mit den einleitenden Bemerkungen des Redakteurs Jörg R. Müller zur kartographischen Darstellung (S. 9-29) und dem Orts- und Personenregister (S. 391-428) ein großartiges Werkzeug der Heuristik bereit. Neben dem Nachschlagewerk Germania Judaica [5] steht durch dieses Findmittel ein weiterer Baustein zur Verfügung, um viele Fragen zu formulieren und am Material zu überprüfen. Die einheitlich angelegten Textblöcke machen einen Vergleich der Untersuchungsräume möglich. Einer Einleitung, die den jeweiligen Raum charakterisiert, folgen Informationen über naturräumliche und verkehrsgeographische Gegebenheiten, herrschaftliche Gliederung und urbane Entwicklung des Gebiets, Siedlungsgeschichte der Juden, Migrationen, kultisch-topographische Ausstattung, Verfolgungen und Vertreibungen, lokale Herrschaftsverhältnisse, Siedlungsqualität, urbane Kategorien des Niederlassungsortes sowie herrschaftliche Kriterien mit sogenannten Judenbetreffen.
In sechs Kartenfolgen (A-F) umfasst der Berichtszeitraum die Jahre 1000 bis 1520. Die 43 Karten der Sequenz A untersuchen Siedlungen der Juden nach fünf regionalen Ausschnitten getrennt (Niederlande/Niederrhein; Westfalen/Niedersachsen/Thüringen; Champagne/Lothringen/Oberrhein; Mosel/Elsaß/Mittelrhein/Franken/Schwaben; Franche-Comté/Dauphiné/Savoyen/Schweiz) und schreiten geordnet in Zeitstufen von Jahrhunderten bzw. ab 1200 in Halbjahrhunderten voran. Eine Sequenz B trägt zehn Karten zu den Kultausstattungen vor und nach den Pogromen um 1350 zusammen, denen sieben erläuternde Beiträge im Textband entsprechen.[6] Die 38 Karten der Sequenz C thematisieren die Verfolgungen und Vertreibungen, auf die ein vergleichender Aufsatz Bezug nimmt. In der Sequenz D sind fünf Karten zur Chronologie der Verfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes versammelt, die in einem Beitrag ausführlich erklärt werden. Die Sequenz E bietet zwei Karten der ersten Siedlungsbelege nach 1356 an ausgewählten Regionen, die durch einen Kommentar zum jüdischen Siedlungsnetz und dessen Raumauffassung aufgeschlüsselt werden. Eine letzte Sequenz F hält sechs Karten mit Spezialthemen im Übergangsbereich zwischen Reich und Frankreich am Vorabend der Pestpogrome bereit. Sechs begleitende Fallstudien vertiefen die exemplarischen Aspekte: Herrschaftsverhältnisse in den Siedlungsorten am Mittelrhein; Jüdischer Kleinkredit in der Grafschaft Burgund; Vergleich der räumlichen Verteilung von Juden und Lombarden; Regionalorganisation jüdischer Gemeinden; Migrationswege von Angehörigen der jüdischen Familie von Vesoul; Ämter und Judensiedlungen in Kurtrier. Insgesamt hat eine Hälfte aller Tafeln die Siedlung, die andere die Verfolgung jüdischer Minderheiten in Europa zum Gegenstand.
Kathedralstädte, Reichs- und Königsstädte, landesherrliche Städte und nichtstädtische Siedlungen werden als Stätten jüdischer Diaspora nachgewiesen und beschrieben.[7] Die große europäische Pest von 1348/49 markierte die Zäsur jeglicher concivilitas oder convivencia. Anlaß, Motivation, Verlauf von Ausschreitungen werden für alle überlieferten Orte vermerkt. Einzelne Massenmorde sind bereits aus der Zeit vor der Seuche bekannt, während für Oberitalien trotz schrecklichen Pestwütens keine Übergriffe festgehalten wurden. Zwar ist der Ausbruch der Pest als ursächlicher Zusammenhang der Massaker nicht belegt, doch kamen zwei Drittel aller Juden im Spätmittelalter durch Pogrome und Pestpandemie zu Tode. Die größte Mordaktion vor der Shoah war eine Angelegenheit nicht mal einer Generation. Rainer Barzens Auswertung der hebräischen Ortslisten des Deutzer und Nürnberger Memorbuches zur Pestverfolgung spiegelt eindrücklich die Präsenz in Zentren und Vororten wider, deren Siedlungsgefüge und spezifische Raumerfahrung durch dauerhaften Ortswechsel und punktuelle Spannungsfelder geprägt sind (S. 293-366).
Gelehrte Quellenkritik, sachliche Reflektiertheit, kartographisches Geschick und kreative Anlage kennzeichnen dieses Unternehmen als eine Art geisteswissenschaftlichen Leuchtturm: der Ertrag einer jahrzehntelangen Projektförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Sonderforschungsbereich Trier. Hier ist es gelungen, die in der Historiographie eingeschliffene Kluft zwischen einer Geschichte der Mehrheitsgesellschaft und derjenigen einer speziellen Minderheit zu überwinden. Die Verwobenheit mit dem christlichen Umfeld, die Anpassung an die einheitliche Leitkultur, die aufgezwungenen und freiwilligen Wanderungen, ja auch die Kulturvermittlung durch Aufbruch werden als "connected history" verstanden.[8] Die so wiedergewonnene Geschichte, ein Orbis apertus, der weder die jüdische Bevölkerungsgruppen überhöht noch sich im bloßen Nachweis des allgegenwärtigen Antisemitismus verliert, bleibt gleichwohl entstehungs- und entwicklungsbedingt auf Westeuropa fixiert. Auch für die Osthälfte Europas sind weite Felder in dieser Weise nachzuzählen, aufzuzeichnen und auszudeuten.[9]
Anmerkungen
[1]. Teil 1: Kommentarband; Teil 2: Ortskatalog; Teil 3: Karten (105 in Mappe).
[2]. Christoph Cluse, ed., The Jews of Europe in the Middle Ages: Tenth to Fifteenth Centuries. Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages (Turnhout: Brepols, 2004); Christoph Cluse, Alfred Haverkamp, Israel j Yuval, eds., Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert (Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 2002); Alfred Haverkamp, ed., Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge (Sigmaringen: Thorbecke, 1999); Alfred Haverkamp, ed., Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters (Berlin: Duncker und Humblot, 1992).
[3]. Michael Toch, Peasants and Jews in Medieval Germany: Studies in Cultural, Social and Economic History (Aldershot: Ashgate 2003); idem, Die Juden im mittelalterlichen Reich (München: Oldenbourg, 1998); Alfred Haverkamp, ed., Zur Geschichte der Juden im Deutschland des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Stuttgart: Hiersemann, 1981); Klaus Lohrmann, Die Juden in der Gesellschaft des Mittelalters (Wien: Böhlau, 2005).
[4]. Elke-Vera Kotowski, ed., Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. 2 vols. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001); Julius H. Schoeps, ed., Juden in Europa: ihre Geschichte in Quellen, vol.1, Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001); Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entstehung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990).
[5]. Ismer Elbogen, A. Freimann, H. Toykocinski, eds., Germania Judaica I: Von den ältesten Zeiten bis 1238 (Tübingen: Mohr, 1963); Zvi Avneri, ed., Germania Judaica II. Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Tübingen: Mohr, 1968); Arye Maimon, ed., Germania Judaica III, 1: 1350-1519 (Tübingen: Mohr, 1987); Arye Maimon, Mordechai Breuer, Jacov Guggenheim, eds., Germania Judaica III, 2: 1350-1519 (Tübingen: Mohr, 1995); Ayre Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim, eds., Germania Judaica III, 3: 1350-1519 Teilband: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices. Gebietsartikel, Sachartikel, Indices (Tübingen: Mohr, 2003).
[6]. Marion Kaplan, ed., Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland vom 7. Jahrhundert bis 1945 (München: Beck, 2003); see the H-German review of this publication at <http://www.h-net.org/reviews/showrev.cgi?path=182401100891121>; Eva Frojmovic, Imagining the Self, Imagining the Other: Visual Representation and Jewish-Christian Dynamics in the Middle Ages and Early Modern Period (Leiden: Brill, 2002); Dean Philipp Bell, Sacred Communities: Jewish and Christian Communities in the Fifteenth Century (Boston, Leiden: Brill, 2001); see H-German review of this publication at <http://www.h-net.org/reviews/showrev.cgi?path=60241068530910>.
[7]. Franz-Josef Ziwes, Jüdische Niederlassungen im Mittelalter (Köln: Rheinland Verlag, 2002); Andreas Hanslok, Die landesherrliche und kommunale Judenschutzpolitik während des späten Mittelalters im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation: Ein Vergleich der Entwicklungen am Beispiel schlesischer, brandenburgischer und rheinischer Städte (Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Gaudig und Veit, 2000).
[8]. Dan Diner, "Geschichte der Juden? Paradigma einer europäischen Historie," in Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, ed. Gerald Stourzh (Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2003), S. 85-103; Christoph Cluse, ed., Europas Juden im Mittelalter (Trier: Kliomedia, 2004); Historisches Museum Pfalz Speyer, ed., Europas Juden im Mittelalter (Ostfildern: Hatje Cantz, 2004).
[9]. Heidemarie Petersen, Judengemeinde und Stadtgemeinde in Polen. Lemberg 1356-1581 (Wiesbaden: Harrassowitz, 2003); Stefi Jersch-Wenzel, Francois Guesnet, eds., Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa (Köln: Böhlau, 2000).
If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: https://networks.h-net.org/h-german.
Citation:
Andreas Rüther. Review of Haverkamp, Alfred, ed., Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den SÖ¼dalpen--Kommentiertes Kartenwerk.
H-German, H-Net Reviews.
March, 2005.
URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=10318
Copyright © 2005 by H-Net, all rights reserved. H-Net permits the redistribution and reprinting of this work for nonprofit, educational purposes, with full and accurate attribution to the author, web location, date of publication, originating list, and H-Net: Humanities & Social Sciences Online. For any other proposed use, contact the Reviews editorial staff at hbooks@mail.h-net.org.

